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Irma Krauß - Freie Autorin vorwiegend im Bereich Kinder- und Jugendbücher
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Rabentochter




Leseprobe aus der Mitte des Buches
Corinna, gerade 15 geworden, hatte mal eine Mutter, die "Blonde". Vor zehn Jahren wurde Corinna von der Blonden zur Adoption freigegeben. Nun ist die "Rote" ihre Mutter.
In der folgenden Szene ist Corinna mit ihrer Adoptivmutter bei der Frauenärztin.

Sie soll es wegmachen, sonst nichts - sie kann sich mit der Roten auf die Couch setzen, nicht mit mir. Sie soll mit mir zu dem Stuhl gehen, damit wir es hinter uns bringen. Ich mache den Mund auf, ich sage ihr alles, was sie hören will, damit sie es wegmacht.
Dann eben auf der Couch, wenn sie drauf besteht. Sie ist dazu da, mir zu helfen, sagt sie. Das ist gut. Ja, mit zwölf hatte ich die erste Regel, das hat dir die Rote doch sicher schon gesagt und meinen Kalender hat sie dir auch gezeigt. Nein, kein Eintrag mehr nach Oktober. Nein, ich hab mir nichts dabei gedacht, nein, wirklich nicht, ich begreif's jetzt auch nicht mehr.
Ob ich Geschlechtsverkehr hatte. Das Herz klopft mir bis zum Hals, das Nicken fällt sehr schwer.
"Öfter?"
Ich spreize den Daumen ab. "Einmal", würge ich.
Ich sehe, dass sie mir nicht glaubt. Trotzdem fragt sie, ob ich noch weiß, wann.
"Am neunundzwanzigsten Oktober", sage ich.
Jetzt hab ich sie überrascht. Sie schaut mich nachdenklich an. Will wissen, wie ich mich fühle.
Wie ich mich fühle? Wie soll ich mich denn fühlen, nachdem ich die geschwollenen Riesenbirnen gesehen habe!
"Mies", sage ich kurz.
Ob ich mich erbreche.
"Jetzt nicht mehr", sage ich.
Ihr Blick ist durchdringend, beunruhigt irgendwie.
Sie wird mich untersuchen, sagt sie, es wird nicht weh tun.
In einer Kabine muss ich mich unten ausziehn. Jetzt weiß ich, warum ich den langen Pulli anhabe.
Ich werde gemessen und gewogen. Wie beim Schularzt, ich muss aufpassen, dass ich nicht lache. Das vergeht mir aber auf dem Stuhl. Ich rutsche auf Papier, das mir am Hintern festklebt. Eine Schwester spreizt mir die Beine, der Pulli nützt nichts mehr.
Ich hab mal eine Kreissäge gesehen, die hat ein Brett gespalten, genau so. Ich stiere zwischen meinen erhöhten Knien nach unten und warte auf das Sägeblatt. Es kommt keines. Nur eine Lampe. Und die Dame in Weiß mit einem schimmernden Metallding wie ein Schuhlöffel. Sie will das in mich hineinschieben.
Aber ich sperre mich. Sie hört sofort auf und redet mit mir. Sie habe es unter heißem Wasser erwärmt, das Dings. Ich bräuchte keine Angst zu haben, sie wäre ganz vorsichtig. Mein angespannter Körper will und will nicht zusammenfallen. Ich befehle es ihm, aber er tut's nicht. Ich soll ruhig atmen und ganz entspannt sein.
Die Schwester hat Mitleid und streichelt meine Schulter, während die Ärztin bohrt. Mir rinnen die Tränen aus den Augenwinkeln über die Schläfen zu den Ohren. Ich kann mir nicht helfen, es ist wie ... Aber wenigstens drückt mir keiner die Pranke aufs Gesicht.
Jetzt ist sie fertig mit dem Schuhlöffel. Sie trägt Gummihandschuhe und fasst mit einer Hand in mich hinein, mit der anderen drückt sie auf meinem Bauch herum.
Ich schreie.
Sie schaut irritiert hoch. Dann tritt sie zurück und streift die Gummihandschuhe ab.
Ich bin gespalten, als ich die Beine von den Stützen nehme, die Wunde will sich nicht schließen.
Ich soll noch liegen bleiben, die Schwester wird mir Blut abnehmen. Man hat mir noch nie Blut abgenommen, und mir wird beim Hinschauen schlecht.
Die Schwester schüttelt den Kopf. "Nicht gucken."
Anscheinend nimmt sie mir sehr viel Blut ab. Ich höre sie schon wieder mit einem neuen Röhrchen klingeln. Mein Blut rinnt aus einer hohlen Nadel in der Armbeuge.
Ob ich schon aufstehen könne. Ich nicke mit gefrorenem Gesicht. Ich soll mit einem Glas auf die Toilette gehen. Ein wenig Urin, bitte.
Wann machen sie es endlich weg?
Ich darf mich anziehen und werde ins Wartezimmer geschickt.
Die Rote schaut mir angespannt entgegen. Ich zucke die Achseln. "Muss nachher noch mal rein. Ultraschall", sage ich. "Weiß auch nicht, was das ist."
"Ich schon", behauptet die Rote.
"Ist es schlimm?"
Sie winkt ab. "Gar nicht. - Was ist, Corinna, was hat die Ärztin gesagt? Nun antworte doch! Hat sie was gesagt?"
Ich schaue ziemlich dumm drein. "Nein, sie hat eigentlich nichts gesagt ..."
"Haben sie dir Blut abgenommen?"
"Eine Menge."
"Urin?"
"Auch."
Die Rote lässt den Kopf hängen und schrumpft in ihrem Stuhl.
Als gar nichts mehr von ihr kommt, flüstere ich: "Wenn das Ultraschalldings vorbei ist, macht sie es dann weg?"
Die Rote sagt rau: "Das wird schon ein paar Tage dauern. Formalitäten ... Ist nicht ganz so einfach, wie du denkst. Man muss zu einer gesetzlich vorgeschriebenen Beratung, was Genaues weiß ich nicht. Ich hab mich um den Paragraphen nie richtig gekümmert, weil ich nicht davon betroffen war. Ich konnte ja nach der Operation nicht mehr schwanger werden." Ihr Gesicht ist düster.
Ich höre Formalitäten. Formalitäten? Das Wort kenn ich schon lange. Mit mir gab's auch Formalitäten. Formalitäten sind ... was Böses. Ohne Formalitäten wäre ich jetzt bei der Blonden. Es gibt mir einen fürchterlichen Stich. Formalitäten haben was mit Wegnehmen zu tun.
"Geht's nicht ohne Formalitäten?", flüstere ich.
Die Rote schüttelt entschieden den Kopf.
Warum Formalitäten, denke ich. Da ist doch niemand! Bei mir war's was anderes. Ich war fünf Jahre alt. Ich konnte laufen und sprechen und meinen Namen schreiben und mich an meine Mama klammern ... Schon klar, dass man Formalitäten braucht um so was loszuwerden, verdammt!
Dann: Ein flaches Bett. Hose öffnen und ein Stück hinunterstreifen, sodass der Bauch frei wird. Die Weiße kleckst ein kaltes Gel drauf und fährt mit einem Gerät auf meinem Bauch herum. Sie schaut nicht hin, sie schaut auf einen Bildschirm neben der Liege. Ich sehe, was sie sieht, wenn ich den Kopf verdrehe: brodelnde Ursuppe oder so was. Sie sähe in meinen Bauch hinein, behauptet sie.
Ich ekle mich vor der Ursuppe. Das soll in meinem Bauch sein? Ich will es nicht sehen. Ich mache die Augen zu.
"Willst du nicht gucken", sagt sie plötzlich leise. "Da ist dein Baby, schau."
Nein! Ich brülle einen stummen Schrei und reiße die Augen auf. Was hat sie gesagt? Ein ...? Ich hab ein bisschen Gift im Bauch, sonst gar nichts! Und warum sagt sie du zu mir? Bis jetzt hat sie mich gesiezt!
Ich kann nichts erkennen, ich will nichts erkennen, ich will das nicht sehen, sie soll es wegmachen!
"Machen Sie's weg", stöhne ich.
Weil sie nichts sagt, schaue ich sie endlich an. Ihre Stirn ist gefurcht, ihre Augen sind traurig.
"Das kann ich nicht", sagt sie.
Was? Ich hör wohl nicht richtig! Warum bin ich denn hier? Was denkt sie eigentlich!
Sie sagt es mir. Sie zwingt mich, auf den Bildschirm zu schauen. Sie zeigt mir, wo genau in der Ursuppe mein ... Baby schwimmt. Sie sagt: "Es ist schon sechzehn Zentimeter lang, schau."
Sie wischt meinen Bauch ab. Ich soll mich aufsetzen.
"Corinna", sagt sie. Vom Schreibtisch nimmt sie ein Lineal. "Das sind sechzehn Zentimeter, schau."
Ich hab nicht gewusst, dass sechzehn Zentimeter so was Riesiges sind.
Sie blickt sich um, wühlt auf dem Schreibtisch, lächelt plötzlich. Hat eine Klebstoffflasche in der Hand.
"Entschuldige, das ist komisch, aber es kann dir vielleicht eine Vorstellung vermitteln. Hier, siehst du, hundertfünfzig Gramm. Nimm das mal in die Hand. So groß und so schwer etwa ist dein Baby schon."
Meine Hand wird schlaff, alles an mir wird schlaff, das Ding zieht mich zu Boden. Ich gebe die Flasche zurück, ich zittere.
Es sei eine intakte Schwangerschaft in der sechzehnten Woche, viel zu spät für einen Abbruch.
Sie hält mir eine Schautafel vor die Augen mit ganz ekligen Bildern drauf. "So wächst der Fötus, siehst du."
Ich drehe den Kopf weg.
Die Rote wird hereingerufen. Zuerst lächelt sie verkrampft, dann wird sie kreidebleich. Sie hält sich an ihrem Stuhl fest und beugt sich vor. "Aber ... aber meine Tochter ist ja selbst noch ein Kind!"
"Ja. Aber es ist zu spät. Nur bis zum Ende der zwölften Woche."
"Können wir nicht sagen ..."
"Nein, können wir nicht."
"Und wenn ... wenn es eine Vergewaltigung wäre? Corinna, sag, hat dir jemand Gewalt angetan?"
Ich starre zurück. Warum will sie das haben?
Aber da sagt die Weiße schon: "Auch dann nur bis zum Ende der zwölften Woche."
"Ja, gibt es denn nicht irgendeinen Grund ...?"
"Nur wenn Corinnas Leben in Gefahr wäre. Oder wenn mit einer erheblichen gesundheitlichen Schädigung des Babys zu rechnen wäre. Nach beidem sieht es nicht aus." Die Weiße lächelt.
Ich kann nicht unterscheiden, ob sie zufrieden oder bekümmert lächelt. Vielleicht beides.
Die Rote sucht noch verzweifelt nach einer Möglichkeit. Sie glaubt es nicht.
Ich schon. Ich hab's kapiert. Manchmal brauche ich sehr lange, bis ich was kapiert hab. Dafür sitzt es dann aber umso gründlicher. Wenn ich mir die zurückliegenden Monate vorstelle ... Also, ich könnte nicht mehr darauf schwören, dass ich wirklich nicht daran dachte. Das kann ja gar nicht sein, wenn du so was im Bauch hast!
In dem Moment, wo du's weißt, o Gott, da kannst du dir nicht mehr vorstellen, dass du keine Ahnung davon hattest. Sechzehn Zentimeter! Mein Gott, und das wächst! In jeder Sekunde!
Ich kriege die Panik und wische mir übers Gesicht.
"Kann ich gehen?", frage ich. Denn jetzt will ich allein sein.
Aber ich muss noch warten, ich bekomme einen Mutterpass ausgestellt.
"Einen was?", kreische ich.
"Einen Mutterpass. Da steht dann alles drin, Ihre Personalien, Ihr Gesundheitszustand ..." Jetzt sagt sie wieder Sie. "... die Ergebnisse der Untersuchungen während der Schwangerschaft. Dann die Daten des Kindes."
Die Daten des Kindes!
Sie ist noch nicht fertig. "Als Erstes schreibe ich den voraussichtlichen Geburtstermin hinein, Moment bitte ..." Sie fummelt an einer Art Rechenschieber. "Hier, es ist der zweiundzwanzigste Juli."
Ich glotze.
Der Roten laufen die Tränen übers Gesicht. "Sie geht noch zur Schule", stammelt sie, "neunte Klasse ..."
"Tja, das ist schlimm."
Ich seh mich den Birnenbauch durch die Schule tragen, ich seh es für eine Sekunde ganz deutlich. Mir wird schwarz vor den Augen.
"Was wird mein Mann dazu sagen?", wimmert die Rote.
Die Weiße will uns allen einen gemeinsamen Termin geben, am Abend. Wir sollen wiederkommen und Bernd mitbringen. Vielleicht auch den Jungen?
Ich brauche eine Weile, bis ich begreife, wen sie meint. Ich schnappe nach Luft.
Nun, ich müsse ihn doch kennen, da ich mich so exakt an das Datum erinnert hätte.
"Nein, nein, nein!", schreie ich. "Ich kenne ihn nicht! Ich weiß nicht mal seinen Namen!" Ich kann überhaupt nicht mehr aufhören zu schreien.
Eine Schwester kommt hereingestürzt. Die Weiße hat plötzlich eine Spritze in der Hand. Ich weiche zurück, ich klappe den Mund zu, ich strecke die Hände vor. Meine Kehle tut weh.
Sie schauen sich an. Ob ich vernünftig wäre. Ob es mir wieder besser ginge. Ich müsse den Namen nicht nennen, man könne mich nicht zwingen. Nicht einmal das Jugendamt könne mich zwingen.
"Aber ich weiß ihn doch wirklich nicht!" Noch einmal fange ich zu schreien an, aber ich verstumme sofort.
Die Weiße legt endlich die Spritze weg.
Ich hab ihn wirklich nie mehr gesehen. Ich kenne seinen Namen nicht, nicht mal den Vornamen. Und ich will ihn auch gar nicht kennen. Ich kann ihn nicht ausstehen, er ist ein Brechmittel, er hat mit mir nichts zu tun. Das Ding gehört mir! Er soll bloß nicht denken, dass er mir was kann! Er wird nichts davon wissen, niemals, das gehört mir.
Ich glotze die Klebstoffflasche an, ich krieg einen wahnsinnigen Lachreiz: So'n Ding steckt in mir drin und sie können es nicht rausholen, sie dürfen es nicht! Sie dürfen's mir nicht wegnehmen! Und wenn's auch jeden Tag wächst, jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde, jede Sekunde, wenn's wächst, bis ich platze: Sie dürfen's mir nicht wegnehmen! Das ist das Komischste, was ich je gehört hab.
Es hat überhaupt nichts mit dem Stinkskorpion zu tun. Das mit dem Gift war vorher, die ganze Nacht hab ich gedacht: Gift, Gift in meinem Bauch. Jetzt ist alles anders.



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