Mutgeschichten




Die Mutprobe

Moritz spielt gern mit Alexander von nebenan. Meistens vertragen sie sich gut.
Gestern sind sie auf ihren Inlineskates durch die Eichenstraße gebraust, fünfmal bis zur Burgstraße und zurück, eng um Kanaldeckel und geparkte Autos herum. Das hat Spaß gemacht.
Aber heute will Alexander auf einmal, dass sie es endlich tun, und Moritz kann ihn nicht davon abbringen.
„Du bist ja bloß feig, du hast ja überhaupt keinen Mut!“, ruft Alexander.
Und zwar soll Moritz mit ihm die steile Burgstraße runtersausen. Bremsen soll nicht erlaubt sein. Erst ganz unten gibt es – zack – eine Vollbremsung.
Moritz sagt: „Ich bin überhaupt nicht feig!“
„Was bist du dann?“, höhnt Alexander.
„Immer bestimmst du, was wir tun!“, giftet Moritz.
„Ja, weil ich Mut hab!“ Alexander stößt sich vom Zaun ab. Er fährt kunstvoll rückwärts.
„Ich hab auch Mut!“, ruft Moritz.
„Hast du nicht. Du bist feig, feig, feig ...“
Moritz stellt sich plötzlich einen dicken, fetten Stein vor, der hinter Alex liegt. Aber leider ist die Straße blank gefegt – die Leute in der Eichenstraße kehren jeden Samstag ihren Straßenabschnitt. Der Wind hilft ihnen dabei, denn die Eichenstraße ist oben am Berg, direkt unter der Burg, wo es immer windig ist.
Zur Stadt hinunter kommt man auf der Burgstraße. Die ist so steil, dass man sein Rad am liebsten auch abwärts schiebt. Moritz hat einmal probiert, wie es ist, wenn man auf Inlineskates hinunterfährt, ein Stückchen nur. Er hat schnell gebremst, solange er noch bremsen konnte. Sein Herz hat wild geklopft.
Aber gut. Wenn Alex unbedingt will, dass sie beide sich den Hals brechen, bitte schön, das kann er haben. Von wegen feig, von wegen keinen Mut!
Und schon saust Moritz davon, Richtung Burgstraße. Erst als er dort ist, guckt er sich um.
Alexander kommt hinter ihm drein und fuchtelt mit den Armen. „Warte, warte, warte!“
Na schön, Moritz wartet. Er will sich ja nicht ganz alleine den Hals brechen. „Also“, sagt er barsch, „bist du so weit?“ Wenn es schon sein muss, dann lieber gleich, solange er eine solche Wut hat. „Oder kriegst du jetzt vielleicht Schiss, Alex?“
„He“, sagt Alexander, „man darf sich doch wohl noch aufstellen.“ Er rollt zuerst zur Straßenmitte. Dann zum rechten Gehsteig. Dann zum linken Gehsteig. Als wären die Gehsteige nicht sowieso zu schmal.
„Du kannst dich noch bis übermorgen aufstellen“, ruft Moritz, „ich mach’s jetzt!“ Sein Herz bummert. Wenn nur die Knie nicht zu zittern anfangen. Mit Puddingknien auf Inlineskates – nein, danke. Moritz stellt seine Füße gerade. Da laufen die Räder los, von selbst.
„Halt, halt, halt!“, hört er Alex schon wieder rufen. „Wir haben die Helme vergessen!“
Moritz bremst. Er ist höchstens fünfzehn Meter gefahren und seine Knie sind bereits Pudding. Schnaufend kämpft er sich wieder nach oben. Die paar Meter reichen ihm, er keucht. Die ganze Burgstraße käme er niemals hoch. Aber dazu müsste er ja sowieso vorher heil unten angekommen sein.
„Was schreist du so?“, sagt er zu Alexander. „Wegen dir hab ich gebremst,  jetzt wäre ich längst unten!“
Mensch, ist Moritz froh, dass Alex noch rechtzeitig an die Helme gedacht hat. Denn die sind vielleicht überhaupt nicht zu finden.
Er fährt mit Alex nach Hause zurück. Zuerst schauen sie in der einen Garage nach, dann in der anderen. Und leider hängen beide Fahrradhelme an den Rädern – es ist wie verhext, wenn man sie wirklich braucht, sind sie nämlich nie da. Moritz setzt seinen Helm auf und grinst schief. Was soll er auch sonst tun.
Die Schützer trägt er bereits. Er und Alex haben einmal an einem Inline-Kurs von Profis teilgenommen. Die Profis haben vielleicht toll ausgesehen mit ihren Schützern und Helmen! Seitdem tragen Moritz und Alex auch ihre Schützer. An den Handgelenken, den Ellbogen und den Knien. Und meistens tragen sie auch ihre Helme. Denn erst mit Helm sieht man ganz echt wie ein Profi aus. Doch irgendwas haben die Profis noch gesagt – wenn Moritz nur wüsste, was ...
Er und Alexander fahren wieder zur Burgstraße, diesmal also schön mit Helm.
Alex guckt runter. „Oder sollen wir erst morgen?“, meint er.
„Mir egal“, sagt Moritz. Morgen wäre ihm viel lieber! Aber Alex hat behauptet, er sei feig ...
Eine Frau schiebt ihr Rad herauf. Es ist Frau Krauß, die zurzeit in der Burg wohnt und Kinderbücher schreibt. Sie hat die Klasse von Moritz und Alexander schon einmal in der Schule besucht.
 „Also?“, fragt Moritz mit Herzklopfen. Seine Rollen kommen in Bewegung. Die von Alex auch.
Frau Krauß ist jetzt oben. Sie verschnauft. Sie zieht einen Apfel aus der Tasche und will hineinbeißen. Aber ...
„Huch!“, schreit sie, als sie sieht, was Moritz und Alex vorhaben. Sie lässt vor Schreck den Apfel fallen.
Moritz presst den Stopper auf den Boden und bremst mit aller Gewalt. Alex macht dasselbe. Es pfeift und quietscht, dann stehen sie mitten in der Straße und beobachten atemlos, wie der Apfel den Berg hinunterhopst, immer schneller, immer wilder. Sprünge macht er, knallt dann in der Kurve gegen den Gehsteig und zerplatzt. Apfelfetzen spritzen in die Luft.
Moritz schluckt. Alexander auch. Unten in der Kurve liegt der zermatschte Apfel.
„Auf geht’s!“, ruft Frau Krauß. „Was ist plötzlich los mit euch? Zeigt einmal, was ihr könnt – das will ich jetzt aber wirklich sehen!“ Sie stellt sich breit hin und grinst richtig fies. Ihr Rad hat sie an den Zaun gelehnt und sie sieht aus, als wäre sie auf dem Sprung, falls Moritz und Alex tatsächlich ...
Aber Alex guckt Moritz an und Moritz guckt Alex an.
„Wir sind doch nicht hirnamputiert“, sagt Alex langsam.
„Yep, sind wir nicht!“, ruft Moritz. Denn jetzt, genau in diesem Moment, ist es ihm wieder eingefallen.
„Na also.“ Frau Krauß bläst die Luft aus. „Da bin ich aber erleichtert, dass ihr keine Hirnis seid.“ Sie nimmt ihr Fahrrad vom Zaun. „Wo doch schon mein Apfel in Fetzen ist.“ Sie steigt aufs Rad, das letzte Stück zur Burg ist nicht mehr so steil. Sie winkt und holt sich einen neuen Apfel aus der Tasche.
Moritz sieht ihr nach; irgendwas ist komisch – ob die Frau vielleicht auch in einem solchen Profi-Kurs war?
Echte Profis benützen ihr Hirn, haben die Profis nämlich gesagt. Und dann noch: Ehrlich, Leute, es hat gar nichts mit Mut zu tun, wenn man sein Hirn abschaltet und wie blöd eine steile Straße runterfährt. So was machen allerhöchstens ganz große Hirnis!
„Kommst du, Moritz?“, sagt Alex, dem es bestimmt auch wieder eingefallen ist.
Die Eichenstraße liegt lang vor ihnen.
Moritz nickt. Dann gibt er Gas, seine Rollen knallen auf die Straße. Er und Alex brausen davon, eng um geparkte Autos und Kanaldeckel herum, wie beim Slalom. Das macht echt unheimlich Spaß.