Sonnentaube




Kapitel 9 (von 28)

Von Kleidersorgen, Zornestränen und Bahnhofsküssen

 

Jetzt schlottert auch schon das Kirschrote an mir, von den anderen Sachen gar nicht zu reden. Entweder ich kaufe mir lauter neues Zeug oder ich fange endlich wieder zu essen an. Wenn aber doch nichts runtergeht!

Um fünf bin ich mit Kai verabredet – falls er es nicht vergessen hat, aber daran will ich nicht mal denken. Was soll ich nur anziehen?

Das Kirschrote ist sowieso viel zu bombastisch. Alle meine Klamotten liegen inzwischen verstreut herum und ich komme ins Schwitzen, weil mir die Zeit davonläuft. Wenn ich mich nicht bald entschließe, kann ich in ein Badetuch gehüllt zur S-Bahn rennen.

Das Haus ist still, der Flügel schweigt, heute ist nicht Sciancalepore-Tag. Ich suche meine Mutter und klopfe an ihre Tür. „Mama? Kann ich mir von dir etwas zum Anziehen ausleihen?“

„Ich komme gleich zu dir rüber“, antwortet sie.

Ich hebe Shirts auf und lasse sie wieder fallen, ich wühle durch die abgelegten Hosen vom vorigen Jahr, die noch hinten im Schrank liegen. Als meine Mutter endlich in meiner Tür steht, habe ich wieder das Kirschrote an. Aber es ist wirklich viel zu auffällig.

„Sieht aus, als hättest du etwas vor“, stellt meine Mutter fest.

„Ja, ja, ja! Aber ich hab nichts zum Anziehen!“

Sie besieht sich das Durcheinander. Von den Klamotten wandert ihr Blick zu mir und bleibt an mir hängen. Sie stutzt. „Madeleine ...? Du bist verliebt!“, ruft sie.

Gut gespielt. „Das hast du doch sowieso schon gemerkt“, knurre ich. „Gib mir bitte was zum Anziehen!“

Sie will mich mit ausgebreiteten Armen in den Kreis der Liebenden aufnehmen. Aber als ihr mein verzweifeltes Stöhnen sagt, dass dafür jetzt wirklich keine Zeit ist, lässt sie ernüchtert die Arme sinken. „Hol dir aus meinem Schrank, was du brauchst. Soll ich dir dabei helfen oder soll ich weggehen?“

„Weggehen!“ Ich stürze in ihr Zimmer und reiße den Kleiderschrank auf. Furchtbar. Meine Mutter hat so viel Zeug, dass sie einen Basar ausstatten könnte. Das alles durchzuwühlen kostet viel zu viel Zeit und Kraft. Zum Letzten entschlossen renne ich in mein Zimmer zurück und zerre die abgelegten Jeans heraus, die ich voriges Jahr nicht mehr zugekriegt habe.

Schon die erste sitzt. Nur ist sie, verflucht noch mal, zu kurz geworden.

Von der halb offenen Tür her kommt ein Vorschlag: „Kremple sie noch zweimal um, dann ist sie richtig.“

„Danke, Mama!“, sage ich verblüfft.

Mein Spiegel behauptet, dass ich tatsächlich so aus dem Haus gehen kann. Vor lauter Freude darüber habe ich gleich eine eigene Idee. Ich nehme das blaue Urlaubshemd meines Vaters heraus, das ich ihm letztes Jahr abgestaubt habe, um damit meine Fettpolster zu verdecken. Anstatt das Hemd wie früher über die Hose fallen zu lassen, verknote ich es.

„Jawohl“, sagt meine Mutter.

Ich kneife die Augen halb zu, betrachte mich kritisch und finde, sie hat Recht. Zwar bin ich viel kräftiger als zum Beispiel meine Freundin Britta, und bauchfrei könnte ich mir niemals leisten, aber direkt unschön sehe ich mit diesen Klamotten nicht aus. Der nachtblaue Teppich würde es vielleicht bestätigen.

„Danke, Mama!“ Ich werfe meine frisch gewaschenen Haare nach hinten. Sie fallen viel schöner, seit ich sie nicht mehr schneiden lasse. Wer sagt eigentlich, dass Braun eine üble Farbe ist?

Meine Mutter steht noch immer in der Tür. „Wenn du mein Make-up benützen willst?“

„Nein.“ Ich schüttle den Kopf. „Weil nämlich ... also, jemand hat gesagt, er findet es gut, dass an mir alles echt ist.“ Dann sause ich an meiner Mutter vorbei ins Bad. „Frag mich jetzt nichts“, flehe ich sie an, „ich gehe nur zum Konservatorium. Macht es was aus, wenn ich das Essen verpasse?“

„Ich hebe dir einen Fingerhut voll auf.“

„Danke, Mama!“

 

Eine Bahn fährt mir davon. Als die nächste kommt, kann ich mich vor Nervosität überhaupt nicht mehr setzen. Ich hänge an einer Haltestange und stelle fest, dass es heute noch mal so viele Stationen bis zum Zentrum sind wie sonst. Außerdem ziehe ich alle Blicke auf mich. Bin ich vielleicht doch doof angezogen? Sind mir die Haare ausgegangen? Habe ich was an der Nase? Jeder, wirklich jeder begutachtet mich, aber sobald ich das nachprüfe, stimmt es gar nicht.

Als ich endlich wieder laufen darf, geht es mir besser. Um meinem Vater nicht zu begegnen, der jetzt auf dem Weg nach Hause sein könnte, leiste ich mir einen kleinen Umweg. Danach beobachte ich die Eingangstür des Konservatoriums von einem gegenüberliegenden Laden aus, wo ein Kleiderständer auf dem Gehsteig mich bis zum Hals schützt. Die moderne Kunst auf der Insel in der Straßenmitte hindert meinen freien Blick, aber nicht sehr.

Vereinzelt kommen Studentinnen und Studenten aus dem Gebäude heraus. Kai wäre vielleicht dabei, wenn er nicht drinnen auf mich warten würde. Er hatte bis fünf Uhr Musikgeschichte und vorher Werkanalyse. Als Vollstudent nimmt er ja nicht nur Gesangsstunden, sondern muss auch alle Theoriefächer und außerdem Klavier und Chorgesang belegen.

Wäre ich nur gleich hineingegangen! Vielleicht ist mein Vater noch in seinem Zimmer, und wenn es dumm geht, verlässt er es gerade im richtigen Moment, um mir zu begegnen. Jetzt aber Augen zu und durch, nehme ich mir vor und überquere die Straße. In dem geknoteten Hemd und der wadenlangen Jeans erkennt er mich vielleicht gar nicht.

Mein Vater bleibt mir zum Glück erspart. Dafür sehe ich schon von der Treppe aus Kai hinter der Glaswand der Cafeteria sitzen, zusammen mit anderen Studentinnen und Studenten. Judith ist auch dabei. Sie war den ganzen Winter über mit Kai zusammen, wie ich damals heimlich beobachten konnte, aber jetzt sind sie nur noch Freunde – als netten kleinen Beweis hat Miguel heute seinen Arm um sie gelegt.

Kais Anblick bringt mich völlig durcheinander. Wenn mein Herz schon hinter dem dämlichen Kleiderständer wie verrückt geklopft hat, legt es jetzt einen Wirbel vor, der mir die Luft nimmt. Ich bleibe nur eine Sekunde stehen, dann sause ich nach oben, vielleicht finde ich einen Fluchtweg übers Dach. Aber wie immer gibt es nur geschlossene Türen und den langen Flur im dritten Stock, der an einem Fenster endet. Dort stütze ich die Ellenbogen auf und kühle mein heißes Gesicht in zwei eiskalten Händen, die mir gehören und die sonst immer gut temperiert waren.

In die Cafeteria hinuntergehen? Unmöglich.

Im Haus schlagen Türen, manchmal höre ich einen Fetzen Musik, und aus der Cafeteria im ersten Stock dringt eine Mischung aus Reden, Lachen und Stühlerücken zu mir herauf.

Ich muss ganz ruhig werden, mich dann umdrehen und würdevoll zurückgehen. Aber wie denn? Auf dem Flur kommen Schritte näher. Und ich ahne, wer das ist! Nur einer, der mich sucht, geht den ganzen Flur hinunter bis zum Fenster, wo ich bin. Hinter mir bleibt er stehen, so nah, dass ich fast seinen Atem in meinem Nacken fühle. Der Moment, in dem ich mich vor glücklicher Aufregung nicht bewegen kann, dehnt sich endlos.

Wenn es aber mein Vater ist? Ich fahre herum – und geradewegs hinein in Kais Arme.

Er zieht mich an sich. „Madeleine! Was machst du denn hier oben? Hast du mich vergessen?“, flüstert er an meinem Ohr.

Mir ist total schwindlig. Ich kriege kein Wort heraus und beantworte seine Frage mit einem stummen Kopfschütteln.

„Warum bist du dann vorbeigelaufen?“

Ein idiotisches Grinsen gelingt mir immerhin.

Kai schiebt mich ein bisschen von sich und berührt meinen Mund mit den Fingerspitzen. Dazu lächelt er so, als würde er etwas Verbotenes tun. „Wir sollten uns jetzt besser nicht küssen, weißt du, sonst ist mein Arbeitsgeist weg. Komm, Madeleine, gehen wir hinunter.“

„Zu ... zu den anderen?“, krächze ich verständnislos.

„Mhm“, nickt er, „sie warten auf mich. Wir machen noch eine Werkanalyse zusammen. Das ist ökonomischer, dann müssen sich nicht fünf Leute einzeln plagen.“ Er legt mir den Arm um die Schulter.

Ich gehe mit, plötzlich kraftlos vor Enttäuschung. Drei, vier, acht, zehn Schritte. Das kann nicht sein Ernst sein! Ich habe mich nicht tagelang darauf gefreut, in einer Cafeteria zu sitzen und ein paar Studenten dabei zu beobachten, wie sie ein Lied zerlegen! Soll das vielleicht unser Date sein?

„Wissen die alle, dass ...“ Ich bleibe stehen.

„Was sollen sie wissen?“, fragt Kai. Er wartet mit einem fiesen kleinen Grinsen darauf, dass ich es ihm sage. „Meinst du das?“, flüstert er endlich und küsst mich – aber so, als würde ihn jemand hinten am Pulli ziehen. „Sollen sie es denn nicht wissen?“

Ja. Nein. Ja ... Ich finde in meinem verwirrten Kopf zwei einander widersprechende Wünsche. Einer wäre, dass Kai alle Mitstudenten und Werkanalysen sausen lässt und für uns beide einen geheimen Winkel sucht. Der andere wäre, dass ich in der Cafereria unmissverständlich an Kais Seite als seine Freundin auftrete – für den Anfang vielleicht mit einer Tarnkappe ...

„Ich weiß nicht“, murmle ich.

„Komm“, sagt er, „du setzt dich einfach mit an unseren Tisch, das ist doch nicht schwer.“

Eine Tarnkappe erwähnt er nicht.

„Ich warte lieber irgendwo, bis du fertig bist“, sage ich und blicke auf den Boden.

„Oooch ...! Das kann aber dauern! Wo willst du denn warten?“

Ich will überhaupt nicht warten, liegt es mir auf der Zunge. Und wieso ziehst du mir eine Werkanalyse vor? Verflucht!

„Vielleicht finde ich ein Zimmer, dann singe ich ein bisschen“, sage ich und versuche dabei munter zu klingen.

„Na gut“, meint Kai und hilft mir auch noch, ein freies Zimmer zu suchen.

Als die Tür zu ist und ich allein bin, heule ich los. Hinter mir liegen drei Tage, in denen ich null Komma null Kalorien zu mir genommen und fast nicht geschlafen habe, in denen mir vor Aufregung ständig übel war, in denen ich meine beste Freundin vergrault und meine Eltern völlig verunsichert habe – und die Ursache von alledem sitzt seelenruhig in der Cafeteria über irgendeiner blöden Hausaufgabe!!

Wobei ich mich auch gleich frage, wer eigentlich meine Hausaufgaben macht? Ich darf gar nicht daran denken, was mir morgen in der Schule blüht, falls ich heute keine Nachtschicht einlege. Salzige Tränen laufen mir in den Mund, ich vergrabe das Gesicht in den Armen und schluchze.

Nach einer Weile dämmert mir, wie verheerend mich die Tränen zurichten werden. Ich male mir auch noch zwanghaft aus, dass jemand ins Übungszimmer kommt und über das Mädchen mit dem rot verquollenen Gesicht erschrickt. Entschlossen stelle ich mich auf beide Beine und fixiere die Tür. Ich rede mir mit Engelszungen ein, sie sei Frau Dorians Spiegel.

Es hilft. Als Kai mich endlich abholen kommt, findet er keine Spuren meiner Tränen mehr.

„Deine Augen sind heute noch grüner als sonst“, bemerkt er und küsst mich. Er küsst mich richtig und ohne von irgendwem am Pulli gezogen zu werden. Mit dem Fuß angelt er sich die Tür und schiebt sie zu. Er küsst mich wie letztes Mal und meine Knie werden weich. Dabei wollte ich mich eigentlich wehren und mich überhaupt nicht küssen lassen – nicht von einem, dem eine Hausaufgabe wichtiger ist als ich. Aber ehe ich es kapiere, hat die Berührung seiner Lippen die ganze Wartestunde ausgelöscht. Und ich weiß wieder, warum ich drei Tage lang nichts gegessen und fast nicht geschlafen habe, und ich kann im Moment nicht mal bedauern, dass ich Britta vergrault und meine armen Eltern fertig gemacht habe.

Die Putzfrau wirft uns schließlich hinaus. Der Hausmeister wartet mit seinem Schlüssel auf die letzten Nachzügler, die sind wir. Und dann gehen wir Hand in Hand zum Bahnhof.

Wie ist es möglich, staune ich, dass ich sofort aufgehört habe, sauer zu sein? Und wieso fühle ich mich an Kais Hand, als würde ich ihn schon ewig kennen?

„Madeleine?“, sagt er und bleibt stehen.

„Hm?“ Ich strahle ihn schwachsinnig an.

Er schüttelt den Kopf und amüsiert sich über sich selbst. Oder über mich? Oder über ein furchtbar witziges Erlebnis, von dem er mir gleich erzählen wird? Jedenfalls steckt er mich an.

„Was hast du?“, frage ich ihn kichernd.

„Lach du nur!“, sagt er und legt die Stirn in komische Falten. „Jetzt kannst du ruhig lachen! Aber wenn du’s getan hättest, als ich deine Hand genommen habe, beim ersten Mal, weißt du noch? Wenn du da ...“

Ach, das meint er. Sein Aufgebot an Mut. „Stimmt, du hast ja eine Bombendrohung gebraucht“, lache ich.

Er zwickt mich gemein in den Arm. „Jetzt glaub mir doch! Wegen der Bombendrohung war alles unwirklich – irgendwie theatralisch. Und deshalb hätte ich so tun können, als wär’s nicht ernst gemeint. Und da hab ich mich getraut, da ist es mir leichter gefallen!“

Ich spiele mit. „Sehr leicht!“, sage ich lachend. Woher kann ich das? Seit wann habe ich dieses lockere Reden drauf?

„Das hat nur so ausgesehen.“ Er schaut mich bitterböse an. „Du hast wohl überhaupt nicht mitgekriegt, dass ich immer absichtlich zu früh in deine Stunde geplatzt bin? Und jedes Mal einen Anschiss von Frau Dorian riskiert habe?“

„Wozu?“, frage ich verwirrt. Irgendwie scheint das nicht nur ein Spiel zu sein.

„Da muss ich aber mal wahnsinnig nachdenken! Um dich zu sehen vielleicht? Um dich zu hören, um dieselbe stickige Luft zu atmen wie du, um ... Was weiß ich noch alles!“, stößt Kai hervor und setzt sich und mich wieder in Marsch. Er drückt meine Hand, dass es weh tut. Ich spüre es und spüre es nicht.

Was er da aufgezählt hat, kommt mir sehr bekannt vor. Ich erinnere mich, dass ich beim Stundenwechsel immer extra getrödelt habe, dass ich mir seitenlange Notizen von meinem Unterricht gemacht habe, dass ich jede kleinste Anregung von Frau Dorian aufgeschrieben habe – nur um Kai noch ein Weilchen zu sehen, zu hören, um dieselbe Luft zu atmen wie er und mein Herzweh zu spüren.

„Und ich bin nie sofort aus deiner Stunde verduftet“, murmle ich, „weil ich so lange wie möglich in deiner Nähe sein wollte ...“

Kai bleibt mitten in der Bahnhofshalle stehen. Sein Blick wiegt jetzt nicht eine, sondern hundert Wartestunden auf. Wir küssen uns lange. Das machen wir auch wieder in der Unterführung, wo man uns fast umrennt, und auf dem Bahnsteig, wo wir endlich eine Ecke für uns finden. Ich kann überhaupt nicht genug davon kriegen. Habe ich wirklich vor ein paar Tagen an einem Tischchen in einer Eisdiele gedacht, ich zerfließe? Ganz falsch. Jetzt zerfließe ich! Jedes Mal, wenn wir uns umarmen.

Als der Zug einfährt, drückt Kai meine Hand. „Wenn ich mich nicht getraut hätte ...!“, murmelt er.

„Aber warum solltest du dich nicht getraut haben?“, flüstere ich. „Warum?“ Er zieht die Augenbrauen bis zum Haaransatz hinauf. „Weil ich dich beobachtet habe! Weil du anders bist als die anderen. Weil man dich nicht einfach anbaggern kann! Weil man mit einer Abfuhr rechnet!“ Dann lässt er mich los und springt in den Zug. „Bis morgen, Madeleine!“

Ich schaue ihm nach und bleibe mit allen ungelösten Rätseln zurück. Wieso bin ich anders? Wie anders? Und anders als wer? Habe nicht ausgerechnet ich die ganze Zeit sehnlichst darauf gewartet, angebaggert zu werden??