Internat Fledermaus - Ein Glückstreffer für Antonia




Leseprobe (Kapitel 1)
1

"Wenn man fast zwölf ist, Antonia", sagt meine Mutter, "sollte man vom Leben wissen, dass es einem nichts schenkt. Träum weiter oder schau dich um!" Sie klemmt sich ihr schrilles Haar hinter die Ohren - orange, ich finde, die Farbe ist ihr etwas daneben geraten.
Gut, ich grinse und schaue mich um. Dabei weiß ich auswendig, wie wir leben. In zwei vollgestopften Zimmern, die meine kleinen Brüder von früh bis spät auf den Kopf stellen. Dazu ihr Gebrüll, wenn sie sich raufen. Gut gemischt mit dem Lärm aus dem Treppenhaus und der Wohnung nebenan, denn die Wände sind dünn und die Türen taugen nichts. Schön, wirklich. Wenigstens ist mein Vater nicht da. Er verbringt seine Tage auf dem Arbeitsamt oder in der Kneipe. Nach Hause kommt er meistens nur zum Schlafen. Manchmal hat er auch einen Job. Das merke ich immer gleich an der Laune meiner Mutter. Heute scheint das nicht der Fall zu sein. Es ist mit ziemlicher Sicherheit einer der Tage, an denen sie behauptet, dass sie nichts hat als die Glotze.
Also wieder keine Post. "Hab ja nur gefragt", sage ich locker. Ich lege meine Schulsachen auf den hohen Flurschrank, damit Till und Kevin nicht rankommen. Die Stofftasche aus der Bücherei behalte ich unter dem Arm, als ich in die Küche gehe.
Meine Mutter schiebt mir einen Teller mit Würstchen und Kartoffelbrei hin und beäugt die Bücher, die ich auspacke. Sie verkneift sich eine Bemerkung und zieht sich mit ihrer Zigarette auf unseren winzigen Balkon zurück.
Ja, ich sollte allmählich wissen, wie das Leben ist. Dass ich zum Beispiel erst abends, wenn meine Brüder schlafen, Hausaufgaben machen kann. Und dass meine Mutter sich nachher garantiert nicht aufrafft und mit ihnen rausgeht, sondern mich damit beauftragt. Noch sitzen sie vor der Mattscheibe, aber ich merke schon, wie sie zu zappeln anfangen. Zwillinge! Sie starten irgendwie alles gleichzeitig, das kann ganz schön nerven. Deshalb ist Mama auch so fertig, denke ich. Ich hab wenigstens am Vormittag meine Schule.
Und noch etwas habe ich. Während ich das Essen in mich hineinstopfe, bin ich schon in ein Buch abgetaucht und erlebe Dinge, von denen meine Mutter nichts ahnt. Sie guckt ja nur Talkshows und Lotto und Millionenspiel. Und behauptet, dass wir sowieso kein Glück haben, niemals. Dass mir mein Gymnasium auch nichts helfen wird, ich werde schon sehen.
Sie hat nicht Recht. Denn ich habe bereits zweimal im Leben ein Riesenglück gehabt. Das erste Mal, als ich mühelos lesen lernte, wodurch mir sämtliche Abenteuer in tausend Büchern zur Verfügung stehen. Später noch einmal, als meine Grundschullehrerin keine Ruhe gab, bis meine Eltern mich aufs Gymnasium gehen ließen.
Und jetzt warte ich mit Herzklopfen auf ein weiteres Wunder. Nämlich auf Post aus Lindenburg. Das ist eine Stadt sehr weit von hier. Dort soll das Internat sein, für das mich Frau Maschke, unsere Sozialpädagogin, vorgeschlagen hat. Eine Freundin von Frau Maschke leitet angeblich das Internat. Wenn die Bedingungen erfüllt werden und wenn man großes Glück hat, wird man vielleicht aufgenommen.
Eine der Bedingungen ist, dass man ein Musikinstrument spielt. Ich habe mir das billigste gekauft, das ich finden konnte, eine Blockflöte. Die nehme ich jetzt in der Büchertasche mit hinunter zum Spielplatz. Till und Kevin toben herum und ich lese und übe abwechselnd, ein paar Lieder kann ich schon. Ich spiele total verhaucht, weil der Busch, in dem ich mich verstecke, schließlich nicht schalldicht ist. Wenn ich richtig reinblasen würde, gäbe es einen Auflauf. Das muss ich nicht haben!
Als ich abends zur Wohnung zurückgehe, die Tasche über der Schulter, rechts Kevin und links Till, begegnet mir im Treppenhaus Irene Maschke, unsere Sozialpädagogin.
"Da bist du ja, Antonia!", ruft sie. Es hallt von den kahlen Wänden wider. Ihre Stimme klingt so aufgeregt, dass bei mir mächtiges Herzklopfen einsetzt.
Ich bleibe stehen und schicke meine Brüder voraus. Frau Maschke zieht mit geheimnisvoller Miene einen Umschlag aus ihrer Aktentasche. "Ich wollte den Brief nicht oben lassen, sondern dir selbst geben." Sie holt ein Schreiben aus dem Kuvert und eine Ansichtskarte. Die Karte drückt sie mir in die Hand. "Das ist es. Haus Lindental. Du darfst hin, Antonia!"
Ich muss mich an die Wand lehnen, weil meine Knie nachgeben. Die Karte in meiner Hand zittert. Ich sehe darauf ein Haus wie eine Burg, aus Quadersteinen und mit Schießscharten. Darüber sind dunkle Holzbalken, weiße Mauern und spiegelnde Fenster. Und ganz oben ist ein rot gesprenkeltes Dach. Dieses unglaubliche Haus steht mitten in grünen Wiesen und Wäldern. Ein Fluss ist auch da und in der Ferne auf dem Berg eine Stadt im weißen Dunst.
So wie diese Karte, so sehen Träume aus. Wenn man beim Lesen mal die Augen schließt und das sieht, was man gerade gelesen hat.
Ich gucke von der Karte zu Frau Maschke. Plötzlich habe ich Angst und denke für eine Sekunde wie meine Mutter. Kein Glück und so. Wir doch nicht.
Aber Frau Maschke grinst von einem Ohr zum anderen. "Es ist wahr, Antonia. Du darfst hin. Du hast zwar eine Probezeit, aber die wirst du schon bestehen ..."
Ich hole vorsichtig Luft, mir ist komplett schwindlig. "Was hat meine Mutter gesagt?"
Frau Maschke lacht. "Kann ja nicht sein! Gibt´s ja nicht! Meine Tochter? Ich glaub´s nicht!"
Ich rutsche an der Wand runter und fange einfach zu heulen an. Vor lauter Glück.