Das Wolkenzimmer




Kapitel 1

Veronika bemerkt den Türmer erst, als er spricht. Er lehnt an einer Wand und schaut sie an. Sie hat die Tür am Ende der Treppe aufgestoßen. Sie keucht. Das sollte es sein, sie sollte es geschafft haben.
Doch nein, wieder eine Etage. Der Türmer ist ihr egal. Sie will nichts als hinauf. Und danach runter, im freien Fall. Etwas Höheres als diesen Turm gibt es weit und breit nicht.
„Nur bis hier, Lady“, sagt der Türmer zum zweiten Mal.
Veronika hat ihn gehört. Doch mit dem Kopf im Nacken kann sie nicht gut nicken. Sie sucht, wo es weitergeht. Irgendwo muss es doch nach ganz oben gehen.
Ein Glöckchen hat gebimmelt, direkt über ihr, es schwingt noch nach. Es ist mit der Tür verbunden, die sie nach einem Non-Stop-Lauf und am Ende ihrer Kraft aufgestoßen hat, wie man ein letztes Hindernis beiseite stößt.
Nein, nicht am Ende ihrer Kraft – die Beinmuskeln melden, dass sie wieder können. Das Knarren der Tür noch in den Ohren, ihren Schlag und das wütende Gebimmel, läuft Veronika zu der schmalen Holzstiege, die sie nun entdeckt hat.
Mittags hat sie ihren Lauf begonnen, immer auf den Turm zu. Von weit her, vom Rand der Ebene. Wie auf einer Zielgeraden, trotz Kurven, Kreisverkehr, Umwegen und dem plötzlichen Richtungswechsel nach oben.
Etwas behindert Veronika. Der Reisesack, den sie am Kordelzug hält. Den ganzen himmelhohen Turm ist sie hinaufgelaufen mit dem unhandlichen Ding!
„Lady“, mahnt der Türmer. „Sie müssen eine Karte lösen.“
Veronika dreht sich um, macht die Faust auf und lässt den Sack los. Sie rennt weiter. Endspurt.
Schon von der Treppe aus sieht sie etwas Helles, irgendwo dringt Tageslicht herein wie um eine Ecke, an dicken Mauern vorbei. Eine Tür, ein Fenster, was immer. Noch drei Schritte. Sie hört sich keuchen, erstaunlich, dass sie alles hört, sie stürzt hinein in den schmalen Durchlass, eine Pforte ohne Tür, und hindurch, sie weiß, wohin sie will: hinaus und hinunter und sich hinter sich lassen.
Aber Veronika hat nicht mit sich gerechnet. Sie hat nicht gewusst, dass sie sich nicht abschütteln kann, wenn sie das sieht, dieses wahnsinnige, luftige, helle Garnichts da draußen. Sie hat nicht gewusst, dass sie in dem Moment, in dem sie sich schon fliegen sieht, hui, durch den weiten, freien Raum nach unten, dass sie in dem Moment schwer wird wie ein Wassersack, nicht mehr wegzukriegen. Dass sie sich ansaugt wie eine Nacktschnecke. Bibbernd hängt sie an der Turmwand und macht sich in die Hose, weil sie nicht aufhören kann sich fallen zu sehen, während sie die Augen zudrückt und ein Stöhnen aus ihrem Hals kommt und die Spucke von ihrem Mund den Stein nass macht, auf den sie das Gesicht presst, als müsste sie da hinein. Schleimig, zäh und schwer.
Es reicht also nicht aus, lebensmüde zu sein, es gehört mehr dazu. Aus ihrem Stöhnen wird ein unbeherrschtes Weinen. Doch da hört sie Schritte auf der Stiege. Sie verstummt sofort.
Es ist der Türmer.
Veronika bleibt am Turm kleben, halb drinnen, halb draußen. Ein Augenzucken lang hat sie geblinzelt, jetzt sind ihre Lider zugepresst und die Lippen auch. Kein Ton kommt mehr aus ihrer Kehle. Nur das Zittern lässt sich so auf Kommando nicht abstellen.
Der Türmer schiebt sich an ihr vorbei.
Veronika rauscht das Blut in den Ohren, sie braucht eine Weile, bis sie überhaupt fähig ist zu horchen. Die Wange am Stein, die Augen geschlossen, konzentriert sie sich aufs Gehör. Doch nicht das leiseste Geräusch verrät ihr, was der Mann macht. Er kann sich da draußen in Luft aufgelöst haben, der völligen Stille nach. Wozu ist er heraufgekommen?
Es kostet sie ungeheuer viel Kraft, sich umzudrehen. Die Augen einen Spalt zu öffnen, durch die Wimpern zu blinzeln, darauf gefasst zu sein, dass sie sich wieder fallen sieht – und schon fährt ihr ein Stich durch Brust und Bauch und nimmt ihr den Atem: Da ist es wieder, das helle Nichts, der Himmel, der leere Raum, nur einen Schritt entfernt. Dazwischen eine Balustrade, eine lächerliche Barriere aus steinernen Ranken, die den Augen nichts nützt, denn man sieht hindurch und hinunter. Veronikas Knie zittern unkontrollierbar.
Fallen, fallen bis zur letzten Konsequenz, dem Aufschlag, sieht sie sich diesmal nicht. Denn da steht der Türmer, genau vor ihr. Er kehrt ihr den Rücken zu, hat die Hände flach auf der Balustrade liegen und studiert den Himmel. Seine Anwesenheit hat mehr Substanz als das steinerne Rankenwerk, ohne das man glatt in die Wolken hinauslaufen könnte.
Ihre Knie kommen langsam zur Ruhe und lassen sich endlich auch wieder halbwegs einrasten. Veronika testet als Nächstes ihre Stimme.
„Ich hab nicht bezahlt“, krächzt sie.
Was für eine Verkleidung er trägt. Mittelalterlich, ein Hemd mit weitem Kragen, eine Kniehose, ein Leibchen oder wie man das nennt. Ein Türmer in Tracht. Ein grauer Turm mitten in einer kreisrunden Stadt. Eine mörderische Höhe. Und eine Angst wie noch nie im Leben.
Dass sie den Mund aufgebracht hat, dass sie schon wieder reden kann! Dass sie überhaupt noch einmal redet, war nicht vorgesehen.
„Wer hinaufrennt wie Sie, Lady ...“, sagt der Türmer nach einer geraumen Weile. Er sagt es in den leeren Raum hinaus und eine Antwort ist es sowieso nicht. „Wer so hinaufrennt, ist entweder ein Turmläufer ...“
Veronika wartet.
„Oder ...“ Der Türmer streicht mit seinen Händen über die Balustrade. „Nun, er prallt zurück. So ist das.“ Aus der verwitterten Oberfläche des Steins löst sich ein Krümel und er nimmt ihn zwischen zwei Finger. Ein schwindelfreier Mensch könnte auf dieser Balustrade stehen, unter seinen nackten Sohlen wäre es vermutlich rau und warm. Aber Veronika glaubt nicht, dass es einen solchen Menschen gibt.
„Kommt vor, alle paar Jahre einmal, dass einer nicht zurückprallt“, sagt der Türmer. Er betrachtet den Krümel aus der Nähe und steckt ihn ein. „Man sieht es ihm an.“
Eine merkwürdige Stille ist das hier; das Brummen der Autos auf der Umgehungsstraße ist weit weg und überhaupt: Unten ist unten. Oben ist oben. Veronika schaut in den Himmel, wo ein weißer Kondensstreifen langsam zerfließt. Ein Vogel zieht lautlose Kreise, ohne Flügelschlag, als wäre das nichts, zehn Meter höher, hundert Meter tiefer.
Vor ihr der Rücken des Türmers.
„Woran sieht man’s?“, fragt sie.
Den Türmer sieht den Kondensstreifen an. Oder den Vogel. Oder ein Abendwölkchen.
„Woran?“, wiederholt sie.
Sie wartet umsonst. Die nasse Hose fühlt sich furchtbar an und Veronika faucht plötzlich: „Was ist? Muss ich jetzt bezahlen oder nicht?“
„Bezahlen“, sagt der Türmer. Er wiegt das Wort auf der Zunge. „Bezahlen. To pay – or not to pay.” Er pickt noch ein Krümelchen aus dem porösen Stein und steckt es wieder in die Tasche.
Ihr Zorn ist an ihm abgeprallt. Veronika würde gern an der warmen Mauer hinunterrutschen und den Kopf in den Armen vergraben. Aber sie bleibt stehen, weil sie sich nicht einmal dazu entschließen kann. Die Hose ist kaum das Schlimmste, das ihr heute passiert ist. Auch nicht dieser Neunmalkluge an der Balustrade, der in den Himmel redet. Mit englischem Akzent. Als gehörte Veronika zu der japanischen Reisegruppe, zu diesen Intelligenzlern auf Studienreise, die scharenweise aus dem Turm kamen, bevor sie hineinkonnte.
„Sie müssen nicht auf Englisch machen, für mich nicht“, sagt sie. Lächerlich, in einer deutschen Kleinstadt.
Über ihr tut es drei helle, schnelle Glockenschläge.
Ding-ding. Ding-ding. Ding-ding.
Der Türmer dreht sich um. Er schaut Veronika von oben bis unten an und bemerkt auch ihre Hose. „Zeit zu gehen, Lady. Ich schließe jetzt den Turm“, sagt er.
Veronika verzieht das Gesicht. Hat er nicht gehört, was sie von seinem affigen Akzent hält? Und eine Lady ist sie auch nicht. „Wenn ich aber nicht will?“, sagt sie.
„Sie wollen. Nachts gefällt es Ihnen hier nicht.“ Er zeigt mit dem Kinn zur Seite, wo nichts ist als der schmale, steinerne Balkon, der rund um den Turm führt. Kein Ort für die Nacht, unter normalen Umständen, da hat er Recht.
„Und wenn ich bezahle?“ In der Dunkelheit findet sie vielleicht auf ihre Zielgerade zurück. Sie kann sich beim besten Willen kein anderes Wohin denken.
„Nein“, sagt der Türmer mit einer unmissverständlichen Bewegung zur Tür hin.
Veronika gibt auf; sie ordnet sich dem fremden Willen unter, ihr eigener ist unzuverlässig geworden. Sie geht hinein und die Stufen hinab, in vorsichtigen, zimperlichen Schritten, wegen der Hose. Eine Etage, dann sind sie wieder da, wo sie den Türmer zuerst gesehen hat. Ihr Reisesack, der eigentlich ein Yogasack ist, für Matte und Handtuch gedacht, ist weg. Der Türmer bückt sich hinter seine Theke und holt ihn von dort.
„Nick“, sagt er kühl und reicht ihr den Sack.
Sie zuckt zusammen. Nick ist Mattis’ Name für sie; Mattis war es auch, der die Buchstaben auf die Taschenklappe des Yogasacks geschrieben hat, mit einem Leuchtmarker. In einem unbeschwerten, glücklichen Moment.
„Veronika“, murmelt sie. Und dann: „Ich kann wirklich bezahlen.“ Um nicht sagen zu müssen: Ich weiß wirklich nicht, wohin.
Der Türmer scheint sie plötzlich zu verstehen, er öffnet die Tür zu einem Zimmer.
Veronika zerrt sofort am Kordelzug des Yogasacks. Und wenn es das Letzte ist, was sie im Leben macht: Sie zieht sich um, sobald sie allein ist.
Doch das war ein Irrtum, der Mann wirft nur einen prüfenden Blick in das Zimmer. Türmerstube steht über der Tür. Er hakt einen Schlüsselbund vom Gürtel, sperrt die Tür ab und dreht sich zur Theke um. Alles, was dort ausgebreitet liegt – von der Billettrolle und der Kasse über Schreibzeug bis hin zu typischen Fundstücken – packt er in eine Schublade, die er mit einem weiteren Schlüssel von seinem Bund verschließt. Dann sammelt er Postkarten von einem Ständer und steckt sie in eine Plastiktüte. Die Tüte schlägt er um und legt sie als Paket auf die Theke, die jetzt nur noch ein gewöhnlicher Schreibtisch ist. Er geht an Veronika vorüber zur Treppe und hält ihr die halbhohe Lattentür auf. Das Glöckchen bimmelt. In der Türmerstube antwortet ein zweites.
Veronika folgt ihm stumm die Treppe hinab. Man kann nicht über so viele Stockwerke zimperlich gehen, man gewöhnt sich an eine nasse Hose. Man poltert hinunter, den Sack über die Schulter geworfen.
Einmal muss sie warten, der Türmer kontrolliert einen Verschlag. Als sie schon ein paar Treppen weiter sind, kommt ihr der verspätete Gedanke, das könnte eine Toilette gewesen sein und sie hätte sich umziehen können.
Die Stufen, die Veronika im Aufwärtslauf ohne Probleme genommen hat, sind abwärts fies. Zu hoch, zu schmal für den Fuß, mal breit, mal weniger, je nachdem. Wer die gebaut hat, war ein Sadist. Sie hat sich schon zweimal die Achillessehne geschrammt.
Wenn sie gesprungen wäre, würde ihr nichts mehr weh tun. Der Stich, der sie bei dieser Vorstellung durchfährt, ist übel, und sie merkt, dass ihre Blase keineswegs leer ist. Bestimmt war das da oben eine Toilette.
Der Türmer dreht sich manchmal halb nach ihr um. Sie muss hinter ihm bleiben, seit er den Verschlag kontrolliert hat. Er sagt nichts und geht auch gleich wieder weiter. Er nimmt die Stufen ohne einen Mucks. Vielleicht hat er keine Achillessehnen.
Wenn er nicht wäre! Wenn sie allein wäre oder wenn er sie wenigstens vorauslaufen ließe, könnte sie sich mit dem Gedanken befassen, dass es im Prinzip gar nicht nötig ist, ganz hinaufzusteigen und sich draußen den uferlosen Himmel anzuschauen. Denn der Turm ist hohl. Mehr oder weniger. Und innen so hoch wie außen. Wenn man hinaufrennt, achtet man kaum darauf. Erst hinunter packt einen der Schwindel, weil man die Tiefe registriert und weil sie mit jedem Blick und jedem Schritt schwankt. Die Treppen führen die Außenmauern entlang. In der Mitte ist das tiefe Loch. Ab und zu gibt es Balken für Akrobaten. Oder es kommt etwas Festes: die Glocken. Ein ausgebleichtes hölzernes Laufrad für einen Riesenhamster. Ein verstaubtes Aufzugsgewinde aus massivem Eisen, das wahrscheinlich noch schwerer ist, als es aussieht. Ein kompliziertes Räderwerk in einem Häuschen. Seile hängen hinab, die man sich nicht erklären kann, denn sie hängen nicht unter den Glocken. Außer den Fenstern in den dicken Mauern sieht Veronika einmal eine Tür in einer Nische, eine Tür ohne Grund.
Als sie an der Nische vorbei sind, verengt sich alles und wird aus Stein, auch die Stufen, die bisher aus Holz waren. Sie winden sich in einer kühlen steinernen Röhre hinab. Manchmal kommt ein Spitzbogenfensterchen und lässt ein wenig Abendlicht herein. Die Stufen sind uralt und ausgetreten. Unten ist die schwere Holztür, die Veronika dem letzten Japaner aus der Hand gerissen hat.
Das kann noch nicht sehr lange her sein. Es dürfte sich seitdem nichts geändert haben. Mattis ist weg, er ist einfach fortgefahren, er hat auf der Straße gewendet, er hat Veronika stehen lassen. Vor ihr lag die Ebene mit der kreisrunden Stadt und dem Turm in der Mitte. Dorthin wollte sie – aber er nicht; nein, mit so einem plötzlichen Wunsch durfte sie Mattis nicht kommen. Sie hat dann das Auto wenden hören und hat dabei betäubt und unverwandt zur Stadt und zum Turm gesehen. Umgedreht hat sie sich erst, als sie nichts mehr hörte, als es zu spät war, als Mattis verschwunden war und nicht zurückkehrte, so verzweifelt sie auch hoffte und horchte und es nicht glauben konnte.
Der Türmer schaut sie forschend an. Dann macht er die höfliche Armbewegung, die einem sagt, man ist entlassen, man soll jetzt verschwinden.
Auf dem Platz sind Abendbummler, hauptsächlich Paare. Und eine Gruppe Radwanderer. Sie studieren Karten oder Fassaden, die Fassadengucker nuckeln an Plastikflaschen.
Der Türmer geht ein paar Schritte auf den Platz hinaus. Dort steht eine Anzeigentafel, die Touristen auf den Turm locken soll. Er macht ein loses Blatt wieder fest und klappt dann die Tafel zusammen. Bevor er sie in den Turm trägt, sucht er mit den Augen Veronika unter den Abendbummlern. Aber er findet sie nicht.
Um sie zu sehen, müsste er woandershin schauen. Zu einem Spitzbogenfensterchen hinter sich und zehn Meter höher. Veronika wird warten, bis der Türmer mit seiner Tafel im Turm angekommen ist. Wahrscheinlich lehnt er sie am Fuß der Wendeltreppe gegen die Wand, einen anderen Platz gibt es nicht. Dann wird er die Tür versperren und endlich nach Hause gehen. Auf der Tafel steht, dass der Turm von neun bis zwanzig Uhr geöffnet ist. Elf Stunden Dienst, da hat er sich den Abend verdient und kann sich eine amerikanische Talkshow reinziehen, um seinen Akzent zu pflegen.
Bis er weg ist, wird Veronika still wie ein Turmgespenst sein. Aber danach gehört ihr der Turm und sie kann ihn, zum Beispiel, genau bei Sonnenaufgang verlassen. Sie hat bis zum Morgen Zeit, sich immer wieder auszumalen, wie sie ihn verlässt. Da sollte es möglich sein, sich an die Vorstellung zu gewöhnen. Bei Sonnenaufgang, das findet Veronika eine gute Zeit.