Zuflucht im Turm



von Hilde Elisabeth Menzel 12.12. 2007

Es gibt ihn tatsächlich noch, den ungewöhnlichen Beruf des Türmers. Allerdings sind es nur noch wenige Kirchen in Europa, die sich einen mittelalterlich gekleideten Türmer leisten, der vom Balkon des Turms aus seinen historischen Spruch in die Nacht ruft.
Einen solchen Türmer, dessen Geheimnis den Leser in Atem hält, stellt Irma Krauß in den Mittelpunkt ihres bewegenden Romans. Es ist allerdings die zweite Hauptfigur, die sich mit ihrer Geschichte gleich auf der ersten Seite furios in den Vordergrund drängt: „Mittags hat sie ihren Lauf begonnen, immer auf den Turm zu. Von weit her, vom Rand der Ebene. Wie auf einer Zielgeraden, trotz Kurven, Kreisverkehr, Umwegen und dem plötzlichen Richtungswechsel nach oben.” Doch als die Abiturientin Veronika, die nach einem Streit mit ihrem Liebsten nur noch sterben will, theatralisch und egoistisch, wie man nur sein kann im Alter von 18 Jahren, endlich auf der Plattform des hohen Turms angelangt ist, kann sie nicht springen. „Fallen, fallen bis zur letzten Konsequenz, dem Aufschlag, sieht sie sich diesmal nicht. Denn da steht der Türmer, genau vor ihr.” Nicht willens zu leben, aber auch ohne Kraft, sich dem Weiterleben zu stellen, verkriecht sich Veronika im Turm, gegen den Willen des alten Türmers, eines Amerikaners, der seine eigenen Gründe hat, seinen Lebensabend einsam in diesem Turm verbringen zu wollen. „Bisher hat der Türmer seinen Turm noch nie mit einem Besucher geteilt. Warum Veronika nicht geht, weiß er nicht. So wenig wie er die Frage beantworten könnte, warum er sie nicht wegschickt, hinauswirft, abholen lässt.”
Es ist aufregend, mit welcher Sensibilität Irma Krauß von der spröden Annäherung dieser beiden so unterschiedlichen Menschen erzählt, distanziert und doch voller Sympathie für ihre Figuren. Und ihre Idee, als Ort der Handlung diesen Turm mit seinen vielen Stufen, dem ständigen Treppauf und Treppab und der hermetischen Abgeschlossenheit gegenüber dem pulsierenden Leben außerhalb zu wählen, erweist sich als geradezu genial. Es dauert lange, bis der Türmer sich Veronika öffnet und ihr im luftigen „Wolkenzimmer” des Turms von dem kleinen jüdischen Jungen erzählt, der sich hier vor 60 Jahren versteckt hatte, zuerst nur widerwillig geduldet vom einarmigen Türmer, der nicht einsieht, warum das jüdische Kind überleben soll im Gegensatz zu seinen beiden Söhnen, die in Russland gefallen sind. Am Ende siegen aber doch Mitleid und Menschlichkeit, und er gewährt dem kleinen Jascha trotz der für ihn damit verbundenen Gefahr drei Jahre lang eine Zuflucht.
Jugendliche von heute für Bücher zu begeistern, in denen das Dritte Reich und die Judenverfolgung im Mittelpunkt stehen, wird zunehmend schwieriger. Zu deutlich ist dieses Thema für sie mit Schullektüre oder Referaten verbunden. Das Besondere an Irma Krauß’ Roman Das Wolkenzimmer ist, dass die jungen Leser sich in der Figur der Veronika und ihrem Lebensgefühl wiederfinden. So können sie zusammen mit ihr ein Kapitel deutscher Vergangenheit kennen lernen, das sie – so sie sich darauf einlassen – tief berühren wird. (ab 13)

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